"In einer langen Geschichte hatte die Beschreibung des sozialen Lebens der Menschen (man kann für ältere Zeiten nicht ohne Vorbehalte von "Gesellschaft" sprechen) sich an Ideen orientiert, denen die vorgefundene Wirklichkeit nicht genügte. Das galt für die alteuropäische Tradition mit ihrem Ethos der natürlichen Perfektion des Menschen und mit ihrer Bemühung um Erziehung und um Vergebung der Sünden. Es gilt aber auch noch für das moderne Europa, gilt für die Aufklärung und für ihre Doppelgottheit Vernunft und Kritik. Noch in diesem Jahrhundert wird dies Bewusstsein des Ungenügens wachgehalten und mit der Idee der Moderne verknüpft. Inzwischen hat sich jedoch der Sinn für Probleme aus den Ideen in die Realität selbst verschoben - und jetzt erst ist die Soziologie gefordert".

"Mit souveräner Konsequenz und Umsicht hat Niklas Luhmann in den letzten drei Jahrzehnten an einer Theorie der Gesellschaft gearbeitet, die er nun mit Die Gesellschaft der Gesellschaft vorlegt.
Seit den Klassikern, also seit etwa 100 Jahren, hat die Soziologie in der Gesellschaftstheorie keine nennenswerten Fortschritte gemacht. In der Nachfolge des Ideologiestreits des 19. Jahrhunderts, den man eigentlich vermeiden wollte, wurde die Paradoxie der Kommunikation über Gesellschaft in der Gesellschaft aufgelöst mit Formeln wie strukturalistisch/prozessualistisch, Herrschaft/Konflikt, affirmativ/kritisch, konservativ/progressiv. Sicherlich hat die Soziologie in vielen Bereichen sowohl methodisch als auch theoretisch und vor allem in Hinblick auf die Ansammlung empirischen Wissens viel geleistet - aber die Beschreibung der Gesamtgesellschaft hat sie gleichsam ausgespart".

WWW: Das komplette Vorwort online beim Suhrkamp-Verlag

 

 GELESENES 

Kontextualisierung

"Bei meiner Aufnahme in die 1969 gegründete Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld fand ich mich konfrontiert mit der Aufforderung, Forschungsprojekte zu benennen, an denen ich arbeite. Mein Projekt lautete damals und seitdem: Theorie der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre; Kosten: keine. Die Schwierigkeiten des Projekts waren, was die Laufzeit angeht, realistisch eingeschätzt worden. Die Literaturlage in der Soziologie bot damals wenig Anhaltspunkte dafür, ein solches Projekt überhaupt für möglich zu halten. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Ambition einer Theorie der Gesellschaft durch neomarxistische Vorgaben blockiert war. Der kurz darauf veröffentlichte Band einer Diskussion mit Jürgen Habermas trug den Titel: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung? Die Ironie dieses Titels lag darin, daß keiner der Autoren sich für Sozialtechnologie stark machen wollte, aber Meinungsverschiedenheiten darüber bestanden, wie eine Theorie der Gesellschaft auszusehen habe; und es hat symptomatische Bedeutung, daß der Platz einer Theorie der Gesellschaft in der öffentlichen Wahrnehmung zunächst nicht durch eine Theorie, sondern durch eine Kontroverse eingenommen wurde. Für die Theorie der Gesellschaft war von Anfang an an eine Publikation gedacht gewesen, die aus drei Teilen bestehen sollte: einem systemtheoretischen Einleitungskapitel, einer Darstellung des Gesellschaftssystems und einem dritten Teil mit einer Darstellung der wichtigsten Funktionssysteme der Gesellschaft. Bei diesem Grundkonzept ist es geblieben, aber die Vorstellungen über den Umfang mussten mehrfach korrigiert werden" (Luhmann1998,S.11).