Praktischer Teil III Ornamentik

"Es liegt im Wesen der Ornamentik, daß in ihren Erzeugnissen das Kunstwollen eines Volkes am reinsten und ungetrübtesten zum Ausdruck kommt, Sie bietet gleichsam ein Paradigma, an dem man die spezifischen Eigentümlichkeiten des absoluten Kunstwollens klar ablesen kann. Damit ist ihre Wichtigkeit für die Kunstentwicklung genügend betont. Sie müsste den Ausgangspunkt und die Grundlage aller kunstästhetischen Betrachtung bilden, die dann vorn Einfachen auf das Komplizierte übergehen müsste. Statt dessen wird die Figuralkunst als sogenannte höhere Kunst einseitig bevorzugt und jeder unbeholfen geformte Klumpen, jede spielerische Kritzelei werden als erste Kunstoffenbarungen zum Ausgangspunkt kunstgeschichtlicher Betrachtung gemacht, wiewohl sie nicht annähernd soviel von der ästhetischen Begabung eines Volkes aussagen wie die Ornamentik. Es verrät sich auch hierin, wie einseitig wir immer der Kunst nur vom Standpunkt der Naturnachahmung und des Inhaltlichen gegenüberzutreten gewohnt sind.

(...)

Psychologische Wahrscheinlichkeit hat unserer Meinung nach am meisten folgende aus unserer Theorie sich logisch ergebende Vorstellung. Nicht das pflanzliche Gebilde, sondern das Bildungsgesetz desselben war es, das der Mensch in die Kunst übertrug. Zur Verdeutlichung sei ein extremer Vergleich herangezogen.

Ebenso wie der geometrische Stil das Bildungsgesetz der leblosen Materie, nicht aber sie selbst in ihrer äußeren Erscheinung gibt, so gibt das vegetabile Ornament ursprünglich nicht die Pflanze selbst, sondern die Gesetzmäßigkeit ihrer äußeren Bildung. Beide Ornamentstile sind also eigentlich ohne Naturvorbild, während ihre Elemente allerdings in der Natur sind. Dort ist die anorganisch-kristallinische Gesetzmäßigkeit als künst­lerisches Motivverwendet, hier die organische Gesetzmäßigkeit, die sich uns eben am reinsten und anschaulichsten in der Pflanzenbildung zeigt. Alle die Elemente organischer Bildung, als da sind: Regelmäßigkeit, Anordnung um einen Mittelpunkt, Ausgleich zwischen zentrifugalen und zentripetalen Kräften (d.h. kreisförmige Rundung), Gleichgewicht zwischentragenden und lastenden Faktoren, Proportionalität der Verhältnisse und all die übrigen Wunder, die sich uns hei der Versenkung in den Organismus einer Pflanze aufdrängen, sie sind es, die nun den Inhalt und den lebendigen Wert des ornamentalen Kunstwerkes ausmachen, und erst eine spätere Zeit nähert diesen Ornamentstil, der mit Naturvorbildern im Prinzip fast ebenso wenig zu tun hat wie der geometrische Stil, dem Naturalismus. Der Prozess ist also der, daß einreines Ornament, d. h. ein abstraktes Gebilde, nachträglich naturalisiert wird, und nicht der, daß ein Naturobjekt nachträglich stili­siert wird. In dieser Antithese liegt das Entscheidende. Denn sie ergibt, daß das Primäre nicht das Naturvorbild, sondern das von ihm abstrahierte Gesetz ist. Die künstlerische Projektion der Gesetzmäßigkeit der organischen Struktur war es,

 die infolge des innigen organischen Zusammenhangs aller Lebensdinge die Basis gab für das ästhetische Erleben des Betrachters, nicht aber die Übereinstimmung mit dem Naturvorbild.  

Beide Stile, lineare wie vegetabile Ornamentik, stellen also im Grunde eine Abstraktion dar, und ihre Verschiedenheit ist in diesem Sinne eigentlich nur eine graduelle, wie die organische Gesetzmäßigkeit für eine monistische Anschauung auch im letzten Grunde nur graduell verschieden von der anorganisch-kristallinischen ist. Für uns kommt es nur auf den Wert an, den diese graduelle Verschiedenheit der Stile in bezug auf das Problem Einfühlung oder Abstraktion hat. Dabei ergibt sich ohne weiteres, daß die organische Gesetzmäßigkeit, selbst in ihrer abstrakten Darstellung, uns milder berührt und enger mit unseren eigenen Lebensgefühlen verbunden ist. Sie appelliert stärker an die Betätigung dieser unserer eigenen Lebensgefühle und ist auf diese Weise geeignet, den latenten Einfühlungstrieb des Menschen leise und allmählich herauszulocken" [24:89ff].

Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung

Kontextualisierung

Stadtgarten Biesdorf/Berlin