Camillo Sitte stand 1889 beim
Verfassen seines Städtebaus nach künstlerischen Gesichtspunkten vor dem
Dilemma, daß das "neue städtebauliche System" nicht von sich aus die Qualität
entwickelt wie der "Städtebau der Alten". Da aber ein Kopieren des Alten
auch für Sitte nicht in Frage kam, musste er zwischen Altem und Neuem einen Kompromiss
eingehen – das "Neue verbesserte System".
Diese Kompromissbereitschaft
wird
in der folgenden Architekturdiskussion von seinen Kritikern als Inkonsequenz
ausgelegt. Obwohl Sitte ja sehr genau die gesellschaftlichen, technischen und
ökonomischen Veränderungen beschrieben hat, die schließlich zu dem "modernen
System" des Stadtbaus geführt haben, zieht er - nach Meinung seiner
Kritiker - mit dem Kompromiss eines "neuen
verbesserten Systems" die falschen Konsequenzen. Der moderne Städtebau muss
gerade diese neuen Gesetzmäßigkeiten des Lebens zur Anschauung bringen.
Während also die Moderne den Bruch mit der Vergangenheit suchte, war Sitte - so
kann man in unserem Zusammenhang formulieren - um ein ornamentales
Verschränken von alt und neu bemüht.
Besonders pointiert wurde die
Kritik von Walter Curt Behrendt in "Die einheitliche Blockfront im Städtebau,
Berlin 1911" und A.E. Brinckmann in "Platz und Monument, Berlin
1908" und
|
"Deutsche Stadtbaukunst,
Frankfurt 1911" vorgetragen.
Die Frage der Wirkung, wie sie
Sitte noch in den Vordergrund all seiner Betrachtungen gestellt hat, wird
zugunsten der Darstellung von Gesetzmäßigkeit zurückgedrängt. Architektur
wechselt damit von einer "Wirkungsform" zu einer "Daseinsform", in
der das Grundriss-Aufriss-Verhältnis zu einer "kubischen Einheit"
verbunden werden soll. Gefordert wird die einheitliche Ausbildung der Blockfront
als das eigentliche Element der Stadtbaukunst. Diese Einheitlichkeit wird
begründet mit der Einheitlichkeit der Sozialstruktur. Die Wiederholung der
Grundrisse im Massenwohnungsbau sollen sich ästhetisch auch in der Fassade
widerspiegeln: die Idee eines Bauens von Innen nach Außen - einer Typenbildung
im Grundriss und Aufriss.
Werden mehrere Häuser zu einer
größeren Einheit verbunden, lässt sich auch der "Hohlraum der Straße"
leichter bewältigen. Während früher die fürstlichen Herrscher für eine
solche große Ordnung verantwortlich waren, sind es heute die Stadtverwaltungen
und großen Baugesellschaften- und Vereine. Sie sind dafür verantwortlich, daß
ein einheitliches System entsteht und das "individualistische Geschrei"
der wilhelminischen Architektur beseitigt wird.
|
Allein schon die neuen großen
Straßenbreiten machen es notwendig, größere Baukörper zu bilden. Das Haus muss
sich freiwillig einer objektiven Idee unterordnen, zugunsten eines höheren
Ganzen. Es wird ein neues Gefühl für diese Abstraktheit gefordert. Während
Sitte noch von der Stadt als
gesprochen hatte, geht es nunmehr nur noch
um einen Raum-Rhythmus. Dies ist nur konsequent, da solch große Einheiten nur
noch mit Hilfe von Rhythmus zusammengehalten werden können, denn dem Rhythmus
liegt - wie Nietzsche formulierte - etwas Zwangausübendes, Gewaltüberwerfendes
zu Grunde: das "göttliche Hopsasa". Aber auch dieser Rhythmus muss natürlich gefühlt werden. Dabei handelt es sich aber primär um ein
Raum-Gefühl, weniger um ein Körper-Gefühl.
Damit geht die Bevorzugung des
Elementaren einher. Schon bei Karl Scheffler in "Moderne Baukunst" 1907
wird eine Art "Rohbauästhetik" formuliert; die heroische, primitive
Schönheit, die Schönheit im Elementaren und nicht im Ornamentalen. Walter
Benjamin nannte dies die "heroische Verfassung", mit der man der Moderne
begegnen müsse.
|