Mit der soziologischen Kontroverse zwischen Jürgen Habermas und Niklas Luhmann aus dem Jahre 1971 gelangte der Begriff der Systemtheorie erstmals ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit. In den seither verstrichenen fast dreißig Jahren hat vor allem die Luhmannsche Variante dieser theoretischen Konzeption von Ge­sellschaft eine außerordentlich große Resonanz hervorgerufen und - gemeinsam mit radikal konstruktivistischen Positionen, mit denen sie sie einerseits deckt, zu denen sie andererseits auf deutliche Distanz geht - die Landschaft nicht nur der Soziologie gründlich verändert. Auf der Basis einer prononciert antiontologischen Erkenntnislehre unternimmt sie es, mit Hilfe von Unterscheidungen wie etwa denen von System/Umwelt, Medium/Form, Beobachtung erster und zweiter Ordnung, Selbstreferenz und Fremdreferenz und psychischen und sozialen Systemen die moderne Gesellschaft als ein in autonome Funktionssysteme ausdifferenziertes und sich durch Kommunikationen ständig reproduzierendes und evoluierendes Phänomen zu beschreiben. Wie der radikale Konstruktivismus, so begreift auch sie sich als Gegenpol zum neuzeitlichen Wissenschaftspositivismus und damit als Möglichkeit, die aus ontologischen Positionen resultierenden Aporien zu überwinden. Anders als der radikale Konstruktivismus rekurriert die Systemtheorie Luhmanns dabei jedoch, da ihr Psyche und Bewusstsein als letztlich unzugänglich gelten, nicht auf die Subjektdependenz aller menschlichen Kognition. Der Punkt, an dem sie einhakt, ist vielmehr Kommunikation und damit jenes Ereignis, das individuelles Bewusstsein 

überhaupt erst in soziale Wirklichkeit transformiert und als Information greifbar, das heißt beschreibbar macht.

 

Konstruktivismus

Die unter dem Titel Konstruktivismus versammelte heterogene Menge theoretischer Ansätze aus der Biologie, Neurophysiologie, Kybernetik, Psychologie etc. teilen die Annahme, daß Erkenntnis nicht auf einer Korrespondenz mit der externen Wirklichkeit beruht, sondern immer nur auf "Konstruktionen" eines Beobachters. Erkenntnis ist Entdeckung der Wirklichkeit - nicht im Sinne einer progressiven Enthüllung vorab existierender Objekte, sondern im Sinne der "Erfindung" externer Daten.

Unter den Bezugspunkten des Konstruktivismus sind die Untersuchungen Heinz von Foersters zu nennen, die die Reichweite einiger Ergebnisse der Neurophysiologie für die Erkenntnistheorie aufgezeigt haben. Eines dieser Theoreme ist das soge­nannte Prinzip der undifferenzierten Codierung, nach dem die Nervenzellen nur die Intensität und nicht die Natur eines Wahrnehmungsreizes codieren; das Gehirn benutzt die gleichen Operationen (Reize auf elektrischer Basis), um zu sehen, zu hören, zu riechen, zu ertasten bzw. körperlich zu spüren, und schafft dann intern die entsprechenden qualitativen Unterschiede. Die nach den Sinnen unterschiedene Wahrnehmung gründet sich auf

eine interne Interpretation undifferenzierter externer Reize. Die Welt, so wie sie erkannt wird - mit ihrer Varietät und Vielfältigkeit -‚ist das Ergebnis innerer Prozesse.  

GEHOERTES: Heinz von Foerster - Drei Beispiele der periodischen Entladung einer Tastzelle

Ein weiteres zentrales Prinzip des Konstruktivismus ist das von Humberto Maturana formulierte Prinzip der Autopoiesis. Laut diesem Prinzip operiert das System auf der Organisationsebene als geschlossenes System ohne jeglichen Input aus der Umwelt. Das System kommt nie direkt in Kontakt mit der Umwelt und kennt nur seine eigenen internen Zustände.

Aus diesen und anderen Überlegungen ziehen die Konstruktivisten den Schluss, daß jede Erkenntnis unvermeidlich innere Konstruktion eines Systems ist. Die Rea­lität ist einfach so, wie sie ist: aktuell und positiv - aber die Erkenntnis, die sich auf Beobachtungen stützt, kann sie nur durch Unterscheidungen erfassen, die keine direkte Entsprechung in der Realität haben. Der Beobachter kennt somit nur die eigenen Kategorien und keine primären Daten.