Rückgriff_1:

In dem Titel meiner Diplomarbeit spreche ich von systemtheoretischen Beobachtungen architektonischer Entwurfsprozesse. Doch wie ist eine systemtheoretische Beobachtung durchzuführen? Die Frage nach dem Wie der Beobachtung verschiebt die Aufmerksamkeit von dem Was der Systemtheorie zu dem Wie der Systemtheorie. Der systemtheoretischen Beobachtung muss also eine Beobachtung der Systemtheorie vorausgehen. Als erstes Referenzprojekt dient mir deshalb das Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme von Claudio Baraldi, Giancarlo Corsi und Elena Esposito aus dem Jahr 1997.

Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer SystemeDieses Glossar möchte den Zugang zu der Theorie Luhmanns erleichtern. Denn seine Theorie arbeitet mit einer ständigen internen Verweisungsstruktur, in der jeder zusätzliche Begriff die Anfangsbegriffe spezifiziert und verarbeitet. Diese Zirkularität der Konstruktion wird innerhalb der Theorie erklärt und begründet; sie ist einer der Gründe für ihre Leistungsfähigkeit, aber zugleich erschwert sie das Verständnis ihrer Kategorien - da die Beherrschung der einen die Kenntnis aller anderen im Prinzip voraussetzt, während die anderen ihrerseits in einem unendlichen Kreis von Verweisungen die Kenntnis der 

Ausgangskategorien erfordern. Das Glossar wird von den Verfassern als ein Arbeitsinstrument verstanden, das in alphabetischer Reihenfolge die Schlüsselbegriffe der Theorie Luhmanns erläutert. Innerhalb dieser Erläuterungen gibt es selektive Verweise auf andere Schlüsselbegriffe, und am Ende jeder Erläuterung gibt es Verweise auf Schriften Luhmanns, in denen er dieses Thema bevorzugt behandelt. Ergänzt wird dieses Glossar durch die Angabe von sogenannten "Lesewegen", die privilegierte Verbindungen zwischen den Begriffen angeben. Zweck dieser Lesewege ist es zunächst, die enge Interdependenz zwischen bestimmten Begriffen zu betonen und dadurch wenigstens zum Teil der Künstlichkeit der Trennung in einzelnen Stichworte zu begegnen. Jeder Leseweg verläuft durch eine Gruppe eng miteinander verbundener Stichworte; in einer Sequenz gelesen, bieten sie ein relativ vollständiges Bild des inneren Zusammenhangs einer gewissen Thematik: zum Beispiel der Frage der Selbstreferenz oder der gesellschaftlichen Differenzierung.

 Die Lesewege ermöglichen gleichzeitig eine zweite Verwendung des Glossars: als autonomer Text. So kann das Buch auch als eine Art erste Einführung in Luhmanns Systemtheorie benutzt werden, die nach der Struktur der Lesewege in spezifische Problemfelder gegliedert ist. In diesem Fall entsprechen die Lesewege in etwa den Kapiteln eines Buches - mit dem Unterschied, daß sie (obwohl natürlich miteinander verbunden) relativ unabhängige Einheiten bilden und nicht unbedingt in einer Sequenz gelesen 

werden müssen. Sie ermöglichen eine modulare Annäherung an die Theorie in dem Sinne, daß man ihr unter dem Gesichtspunkt einer bestimmten Fragestellung begegnen kann und davon ausgehend die anderen Komponenten zu einem Gesamtrahmen kombinieren kann.

In meiner Diplomarbeit geht es nicht um eine Einführung in die Systemtheorie, sondern um eine Anwendung der Systemtheorie, mit allen damit verbundenen Schwierigkeiten - ich werde in der Durchführung darauf zurückkommen. Die Anwendung einer Theorie kann sich aber nicht nur auf deren Begrifflichkeiten stützen, sondern muss auch die Struktur der Theorie selber berücksichtigen. Das Glossar ist gerade deshalb ein Referenzprojekt, weil es sich an Begriffen orientiert, diese in einer internen Verweisungsstruktur in Beziehung setzt und zusätzlich auf einer weiteren Ebene in Form der Lesewege in einen übergeordneten Sinnzusammenhang stellt. Was das Glossar dabei nicht bewerkstelligen kann oder will ist zum einen die Interpretation der Begriffe durch die Autoren (Selbstinterpretation) und zum anderen die Berücksichtigung der ständigen Veränderungen, Entwicklungen der Begriffe selber durch die laufende Debatte über die Systemtheorie (Fremdinterpretation).