Eine Arbitrarität der Erkenntnisse ist unter anderem dank der rekursiven Verbindung der Operationen innerhalb eines autopoietischen Systems ausgeschlossen. Mangels eines letzen Bezugspunkts, der zwischen korrekten und falschen Hypothesen diskriminiert, kommt man zu keinen endgültigen Erkenntnissen. Jede Erkenntnis ist nur eine Beobachtung und ist relativ zu den Kategorien eines bestimmten Beobachters. Sie muss auf die Operationen dieses Beobachters zurückgeführt werden. Jede Operation ist jedoch an andere Operationen desselben Systems gebunden, die ihre Bedingungen feststellen; jede Operation verarbeitet die Ergebnisse vorheriger Operationen und bereitet die Voraussetzungen für die folgenden vor - und dies gilt auch für die Operation Beobachtung.

Die rekursive Anwendung einer Operation auf die Ergebnisse vorheriger Operationen kann außerdem (wie auch die mathematische Forschung zeigt) zur Kristallisation relativ stabiler Zustände (Heinz von Foersters "Eigenwerte") führen, die in den folgenden Operationen voraussetzt werden und deren Bewegungsfreiheit beschränken. Auch ohne ein ordnendes Anfangsprinzip kann eine Ordnung aus den Verbindungen zwischen Operationen entstehen (die Idee des "order from noise"), um dann akzeptable Operationen auszuwählen, die mit dem System kompatibel sind.

Die Aufgabe der Erkenntnistheorie ist es, Beobachtungen zu beobachten - im Rahmen einer "Beobachtung zweiter Ordnung", die sich

nicht auf das beobachtete "Was", sondern auf das "Wie" der Beobachtung erster Ordnung bezieht. Sie beobachtet also, wie der beobachtete Beobachter beobachtet. Jede Beobachtung kann unter Bezug auf ihre eigenen Möglichkeitsbedingungen beobachtet werden, wie es im Prinzip des blin­den Flecks (blind spot) formuliert wird - einem Prinzip, das wiederum auf von Foerster zurückzuführen ist. Dieses Prinzip weitet eine Entdeckung aus der Erforschung des Sehens auf jede Form von Beobachtung aus: Es gibt einen Punkt auf der Netzhaut, an dem sich keine Rezeptorzellen befinden, deshalb ist un­ser Sehfeld unvollständig. Wir können nicht sehen, was in dieser Zone "abgebildet" wird, und wir können auch nicht sehen, daß wir nichts sehen - denn wir sind uns dieses Mangels nicht bewusst. Dieses Prinzip wurde abstrahiert und für jede Art von Beobachtung postuliert. Beobachtungen sind (weil sie sich auf eine spezifische Unterscheidung beziehen) nie in der Lage, die Unterscheidung, die sie verwenden, selbst zu beobachten. Wenn die Beobachtung sich zum Beispiel an der Un­terscheidung wahr/nicht-wahr orientiert, dann ist man nicht in der Lage zu beobachten, ob diese Unterscheidung ihrerseits wahr oder nicht-wahr ist; das ist der blinde Fleck der betreffenden Beobachtung. Eine Beobachtung zweiter Ordnung - die diese Beobachtung aufgrund einer anderen Unterscheidung beobachtet - kann sehen, was diese nicht sieht, und auch sehen, daß sie es nicht sieht. Sie wird aber selber einen mit ihrem Beobachtungsschema verbundenen blinden Fleck aufweisen, und diese Blindheit kann ihrerseits (von einer anderen Beobachtung) beobachtet werden.

Wenn einmal die Beziehung auf eine letzte Realität als Garant der Stabilität und Angemessenheit der Erkenntnis verworfen worden ist, kann man keinen neuen Fixpunkt mehr gewinnen, der endgültige Behauptungen ermöglicht. Es gibt keinen letzten Beobachter, der die Wahrheit kennt. Der Konstruktivismus löst sich so in ein rekursives Netzwerk von Beobachtungen von Beobachtungen auf, die die Realität nicht widerspiegeln, aber trotzdem extrem selektiven Bedingungen unterliegen, sich selbst regulieren und geordnete Zustände produzieren, die mit der Realität kompatibel sind.

 

Systeme

Niklas Luhmann zieht die Konsequenz aus dem Konzept der Autopoiesis, indem er den Begriff aus dem rein biologischen Zusammenhang herauslöst und verschiedene  Ebenen der Bildung selbstreferentieller Systeme unterscheidet. Autopoiesis heißt dann: Selbstreproduktion des Systems auf der Basis seiner eigenen Elemente. Oder anders gesagt: Ein autopoietisches System ist ein System, das die Elemente, aus denen es besteht, durch das Netzwerk der Elemente, aus denen es besteht, selbst reproduziert.