Meine frühe Bildung war nicht eindeutig visuell geprägt; andererseits glaube ich auch heute noch, dass ein Beruf dem an­deren entspricht, wenn jemand dabei ein klares Ziel verfolgt. Ich hätte irgend etwas anderes tun können: mein Interesse für die Architektur und meine Tätigkeit als Architekt setzen denn auch erst ziemlich spät ein. In der Tat denke ich, dass in mir stets ein starkes Interesse für die Formen und die Dinge bestanden hat. Ich habe dieses jedoch als definitives Moment eines komplexen Systems betrachtet, einer Energie, die nur in diesen Fakten spürbar war. Deswegen war ich als Kind von den Sacri Monti besonders beeindruckt. Für mich stand fest, dass die Heilsgeschichte in der Gipsfigur, im unverrückbaren Gestus, im in der Zeit gefrorenen Ausdruck volle Gegenwart wurde - als eine Geschichte, die anders gar nicht zu erzählen ist.

Es war das gleiche Prinzip, das die Traktatisten mit den Meistern des Mittelalters verbindet - die Beschreibung und die zeichnerische Aufnahme der antiken Formen erbrachte eine sonst unwiederbringliche Kontinuität, aber sie ermöglichte auch eine Veränderung. Sobald das Leben in genauen Formen festgehalten war, ergaben sich auch die Möglichkeiten ihrer Veränderung. Ich bewunderte Albertis Obstination, in Rimini und Mantua die Formen und Räume Roms zu repetieren, als ob es keine zeitgenössische Geschichte gegeben hätte. Tatsächlich arbeitete er wissenschaftlich mit dem einzig möglichen Material, das einem Architekten zur Verfügung stand. Es war in der Kirche Sant‘Andrea in Mantua, als ich zum ersten Mal diese Beziehung von tempo im zeitlichen und atmosphärischen Sinn zur Architektur empfand; ich sah den Nebel in die Basilika eindringen, so wie ich ihn in Mailand gerne in der Galleria Vittorio Emmanuele beobachtet habe, als unfassbares Element, das wie Licht und Schatten modifiziert und verändert, wie die Steine, die von den Händen und Füssen der Menschengenerationen abgenutzt und geglättet werden. Vielleicht interessierte mich in der Architektur allein dies. Denn ich wusste: Was sie möglich macht, ist eine exakte Form, die sich der Zeit entgegenstellt, bis sie von ihr aufgelöst wird  - eine Entwicklung, die gegen die Zeit ankämpft. Die Architektur ist eine Form des Überlebens, die der Mensch entwickelt hat. Es ist eine Art, die grundlegende Suche nach dem Glück zum Ausdruck zu bringen" [15:9-12].

Aldo Rossi: Wissenschaftliche Selbstbiographie         Kontextualisierung

Kirche Sant´Andrea in Mantua, erbaut von Leon Battista Alberti, um 1470
[Abb.5]